Michael

Als Michael jung war, war Michael Jackson sein Idol. Seine Musik, wie er sich kleidete, aber vor allem war es seine unnachahmliche Art sich zu bewegen, die ihn immer mit Bewunderung erfüllt hatte.

Michael wurde erwachsen, vergaß den Helden seiner Kindheit, fand andere Idole und eines Tages auch eine Frau, mit der er sein Leben teilen wollte. Sie heirateten, bauten ein Haus, bekamen Kinder, so wie er es sich immer vorgestellt hatte.
Eines Abends saß Michael auf der Terrasse, die Terrassenplatten mit den grau-braun-weißen, runden Steinen waren warm von der Sonne. Er wärmte seine nackten Fußsohlen an den Platten, denn die Luft war schon merklich kühler geworden. Er griff zu seinem Glas Wein, trank genussvoll einen Schluck und schaute in den Abendhimmel, der von rötlich scheinenden Wolken überzogen war. Seine Frau und die Kinder waren bei seiner Schwägerin und er hatte einen dieser seltenen Abende ganz allein für sich.

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 Ein leichter Wind brachte die Blätter der Platane zum Rascheln und im angrenzenden Wald rief ein Käuzchen seinen klagenden Laut. Michael atmete tief aus. Eigentlich war er ganz zufrieden mit seinem Leben. Der Job lief gut, mit den Kindern war alles in Ordnung, auch wenn die pubertierenden Teenager ihn manchmal ganz schön herausforderten. Doch wenn er ehrlich war, fehlte ihm etwas. Er spürte das nicht immer, nur an solchen Abenden, wenn es um ihn herum still geworden war.

Michael wusste nicht, was ihm eigentlich fehlte. Ja, manchmal war er ein wenig neidisch auf andere, die in seinen Augen erfolgreicher erschienen, doch ihm war klar, dass das nicht der wirkliche Grund war für seine melancholischen Momente. Wie jedes Mal, wenn er nicht weiterkam mit seinen Gedanken, griff er zu seinem Handy, um ein wenig Musik zu hören.

Er öffnete die Musik-App und es wurden ihm Lieder von Sängern vorgeschlagen, die er nicht kannte. Er lächelte. Da war wohl seine Tochter wieder einmal heimlich an seinem Handy gewesen und hatte ihre Lieblingslieder angehört. Sie behauptete immer, mit seinem Handy würden die Songs viel besser klingen. Er hatte sie schon oft gebeten, das zu lassen, damit seine Playlist nicht durcheinandergeriet, doch gegen seine eigenwillige Tochter war einfach kein Kraut gewachsen. Neugierig spielte er ein paar Lieder an, weil er wissen wollte, welche Musik seine Tochter gerade interessierte.

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Sein Zeigefinger tippte sich von einem Song zum anderen und er folgte so den Vorschlägen der App, bis ihm auf einmal „Beat it“ von Michael Jackson empfohlen wurde. Michael stutzte, er hatte schon lange kein Lied mehr von seinem alten Idol gehört. Er startete den Song und die Klänge des ihm sehr vertrauten Liedes ertönten.

Michael drehte die Lautstärke an seinem Handy hoch, doch das war ihm einfach nicht laut genug. Deswegen stand er auf, holte die große Lautsprecherbox, die seine Tochter oft benutzte und stellte sie auf den Terrassentisch. Dann verband er beide Geräte miteinander und drehte die Musik gerade so laut auf, dass er damit die Nachbarn nicht stören würde.

Er setzte sich wieder in seinen Terrassenstuhl, wippte mit dem Kopf im Takt und erinnerte sich daran, wie er damals, wenn seine Eltern beim Kegelabend waren, die große, schwarze Musikanlage im Wohnzimmer aufgedreht hatte, bis die roten Leuchtdioden aufleuchteten. Immer wieder hatte er versucht, so zu tanzen wie sein Idol, doch es war ihm nie gelungen, sooft er auch die Bewegungen in den Musikvideos studiert hatte. Irgendwann hatte er aufgegeben zu tanzen.

 Beat it, beat it, just beat it, sang Michael Jackson und der Song schwebte über die Terrasse hinaus bis in den Wald, wo das Käuzchen mittlerweile verstummt war. Michaels Füße wippten zur Musik, bis der Song endete, und auf einmal war es wieder still. Erschreckend still. Michael griff zu seinem Handy, tippte auf „wiederholen“ und wieder erklang „Beat it“ aus den Boxen. Er hörte den Song zum zweiten Mal und mittlerweile schwang sein ganzer Körper im Rhythmus der Musik mit.

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Am Abendhimmel waren derweil graue Wolken aufgezogen und ein Gewitter kündigte sich an. Michael saß in seinem Terrassenstuhl, „Beat it“ lief zum dritten Mal. Er sah gerade in den Himmel, als dort ein mächtiger Donner entlang rollte und ein riesiger Blitz den Abendhimmel erhellte. Als wäre das der Funken gewesen, den Michael gebraucht hatte, sprang er auf, riss sein Hemd mit beiden Händen auf und begann zu tanzen.

Er tanzte nicht wie Michael Jackson, schließlich war er nicht Michael Jackson. Das wollte er auch gar nicht mehr. Er wollte tanzen, wie er, Michael, tanzen wollte. Schwungvoll schwang er seine Hüften, schnippte mit den Fingern, warf die Arme in die Luft und schob seine Füße am Boden entlang.  

Er drehte sich um seine eigene Achse, verlor dabei beinahe das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch wieder fangen, nur um dann die ganze Terrasse als seine Bühne zu benutzen. Es war ihm egal, ja, er dachte noch nicht mal daran, ob die Nachbarn ihn beobachten oder ob seine Familie nach Hause kommen könnte.

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Als das Lied zu Ende war, tippte er atemlos auf sein Handy, damit jetzt ein Song nach dem anderen von seinem Jugendidol gespielt wurde. Er drehte den Lautstärkeregler so weit auf, wie es nur ging und bedauerte kurz, dass es keine roten Leuchtdioden mehr gab, die ihm zeigten, dass er nun eine Grenze überschritt. Ein Hit nach dem anderen erklang: Thriller, Dirty Diana und viele weitere, deren Namen er dachte schon vergessen zu haben.

Und Michael tanzte, er tanzte jeden Song, schwang die Hüften, kickte die Füße in die Höhe, drehte sich hin und her, hüpfte, warf den Kopf zurück und überließ der Musik die Führung über seinen Körper. Der Regen, der mittlerweile vom Himmel prasselte, war ihm vollkommen egal: Sein Haar klebte an seiner Stirn, das Hemd war klitschnass und seine Jogginghose klebte an seinen Beinen. Er trank den mittlerweile mit Regenwasser verdünnten Wein, und tanzte, als wäre gerade Weltuntergang und heute Abend seine allerletzte Chance, so zu tanzen, wie es schon immer in ihm gesteckt hatte.

Samira Tara

Ich liebe es, Geschichten zu schreiben.

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Der Aal